"Wenn sich schon die Experten nicht einigen können, wie der Stand der Konjunkturentwicklung ist, wie soll es da dem Laien gelingen?", fragt Christiane von Berg, Chef-Volkswirtin BeNeLux & DACH, in ihrem Artikel, der als Interpretationshilfe und Leitfaden zum besseren Verständnis von Konjunktur- und Wirtschaftsdaten beitragen soll.
von Christiane von Berg
Chef-Volkswirtin BeNeLux & DACH bei Coface
Die Verwirrung ist groß: In der einen Woche werden Konjunkturprognosen heraufrevidiert und drei Wochen später spricht das gleiche Wirtschaftsinstitut von einer Krise der deutschen Wirtschaft. Wenn sich schon die Experten nicht einigen können, wie der Stand der Konjunkturentwicklung ist, wie soll es da dem Laien gelingen? Das Hauptproblem bleibt, dass die Wirtschaftswissenschaft keine Naturwissenschaft ist. Ein Ball fällt im freien Fall immer in Richtung des Erdmittelpunkts, also zu Boden. Ob die Wirtschaftsleistung in einem Quartal zurückgeht, ist dagegen eine ganz andere Sache und hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Während das Prognostizieren von Wirtschaftsdaten eine kleine Kunst für sich ist, kann jede und jeder mit ein paar Wissenspunkten die Konjunkturlage zumindest einschätzen. Hier setzt dieser Beitrag an – ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll er als kleine Interpretationshilfe dienen.
Von Geschäftsklima bis Arbeitslosenquote: Wer kam zuerst?
Konjunkturdaten können Überraschungen sein oder keine großen Neuigkeiten mehr beinhalten. Der Grund dafür ist, dass es eine zeitliche Reihenfolge von Daten gibt. Zuvorderst stehen die sogenannten Stimmungsindikatoren. In Deutschland gehören dazu beispielsweise das ifo Geschäftsklima, der ZEW-Index für die Konjunkturerwartungen oder das GfK Verbrauchervertrauen. Alle Indikatoren haben eines gemeinsam: Sie sind das Ergebnis von Umfragen – und zwar bei Unternehmen (ifo), Finanzmarktteilnehmenden (ZEW) oder Konsumierenden (GfK). Ein Vorteil ist, dass die Teilnehmenden innerhalb des jeweiligen Monats befragt werden und diese Daten am frühesten zur Verfügung stehen. Das ZEW veröffentlicht bereits Mitte des Monats für den entsprechenden Monat, das ifo Institut zum Ende des Monats. Ein Nachteil ist, dass die veröffentlichten Daten „nur“ die Aussagen einer – wenn auch repräsentativen – Stichprobe abbilden. Somit können die „harten“ Konjunkturdaten der statistischen Bundesämter von den Daten der Wirtschaftsinstitute abweichen. Eben diese „harten“ Daten werden mit einer deutlichen Verzögerung veröffentlicht. So muss man auf die Einzelhandelsdaten des Statistischen Bundesamtes vier Wochen nach Ende des betroffenen Monats warten, Auftragseingangsdaten oder die neuesten Zahlen zur Industrieproduktion sowie Exporte brauchen fünf Wochen bis zur Veröffentlichung. Hier gilt, dass der Auftragseingang uns schon Informationen für den darauffolgenden Monat gibt – denn ein Auftrag muss zunächst erteilt werden, bevor er produziert werden kann.
Auch wenn man die Monatsdaten sammelt, bleibt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) schwierig zu prognostizieren. Denn es gibt keine monatlichen Daten zu Dienstleistungen (Konsum, Exporte und Importe) und auch die Investitionsseite sowie die Ausgaben des Gesamtstaates bleiben unklar. Dennoch ist das jeweilige Quartal schon lange gelaufen, bis die BIP-Zahlen veröffentlicht werden – das volkswirtschaftliche Gesamtergebnis wird in mehreren Etappen publiziert. Die finale Version steht erst rund acht Wochen nach Ende des betroffenen Quartals zur Verfügung. Es ist also ein Blick in den konjunkturellen Rückspiegel und damit ist das BIP nicht allein. Die Arbeitsmarktdaten sind noch später in der Reihenfolge anzusiedeln. Zwar handelt es sich dabei um monatliche Daten, die sogar relativ früh am Ende des fraglichen Monats veröffentlicht werden – aber der deutsche Arbeitsmarkt ist sehr rigide. Es muss schon eine ganze Weile konjunkturell schlecht bzw. gut laufen, bis sich das im Arbeitsmarkt widerspiegelt. Der Hauptgrund liegt auf der Hand: In Deutschland ist es nicht möglich, je nach monatlicher Verfassung Personen einzustellen oder zu kündigen – im Gegensatz zu den USA oder anderen Ländern, deren Arbeitsrecht sich grundlegend vom deutschen unterscheidet. Ebenfalls verspätet werden Insolvenzdaten veröffentlicht. Diese erscheinen nicht nur mit einem Verzug von 10 Wochen zum betroffenen Monat, sondern sie laufen auch generell der Konjunktur hinterher. Denn zunächst wird an Personalmaßnahmen „gearbeitet“, bis ein Unternehmen gar nichts mehr machen kann und in eine Insolvenz geht.
Nicht nur sauber, sondern rein: Die Bereinigungsverfahren
In der Konjunkturanalyse hat Bereinigung nichts mit „Putzen“ zu tun, aber damit, alles in die richtige Ordnung zu rücken. Man spricht von Preis-, Saison- und Kalenderbereinigungsverfahren. Preisbereinigung bedeutet, dass man die preisliche Veränderung von Produkten, also die Inflation, herausrechnet. Im Einzelhandel macht es beispielsweise einen deutlichen Unterschied, ob die Umsätze aufgrund einer erhöhten Verkaufsmenge zustande kommen oder über höhere Preise. In beiden Fällen freut sich der Einzelhändler, aber für die Konjunkturentwicklung ist die Menge an Konsum (die realen Zahlen) relevant und nicht, welcher Preis dafür bezahlt wurde (nominale Zahlen).
Eine weitere wichtige Bereinigung im Einzelhandel, aber auch überall sonst, ist die Saisonbereinigung. Auch wenn es manche Leute anders sehen: Weihnachten kommt nicht überraschend und ist immer am 24. Dezember. Ergo steigen vorab die Verkäufe im Einzelhandel. Um die wirtschaftliche Entwicklung einschätzen zu können, muss man sich also fragen, ob die Verkäufe überproportional höher oder niedriger als in normalen Novembern und Dezembern liegen. Dies wird über die Saisonbereinigung von den statistischen Bundesämtern herausgerechnet, je nach Land natürlich mit anderen Besonderheiten. Verwandt mit der Saisonbereinigung ist auch die Kalenderbereinigung. Sie spielt zum Beispiel beim BIP eine größere Rolle, wenn dieses niedriger/höher ausfällt, weil in einem Jahr oder einem Quartal weniger/mehr Arbeitstage waren als im Vorjahreszeitraum. Das trifft u.a. dann zu, wenn Feiertage auf das Wochenende fallen und in den darauffolgenden Jahren wieder nicht.
Was ist hier die Einheit? Von Veränderungen und Index-Ständen
Niemand ist eine Insel und Konjunkturdaten sind es erst recht nicht. Ohne eine Zeitreihe kann man nicht erkennen, ob Daten besonders gut oder schlecht ausgefallen sind. Man braucht Vergleichspunkte. Hierbei spielen die oben genannten Bereinigungsverfahren sowie Sondereffekte eine große Rolle. Hat man zum Beispiel nicht-saisonbereinigte Daten, dann bringen einem ein monatlicher Vergleich in Prozent, aber auch der einfache Indexstand, nicht viel. Es ist ein heilloses Hoch und Runter, das mehr mit moderner Kunst als mit Konjunkturanalyse zu tun hat. Wenn man also nur nicht-saisonbereinigte Daten hat, ist die Veränderung zum Vorjahr die bevorzugte Art der Analyse. Hat man saisonbereinigte Daten, dann ist eine Aussage über die Veränderung zum Vormonat möglich. Aber auch hier gilt bei der Interpretation: Es muss hinterfragt werden, ob es im Vormonat evtl. Sondereffekte gab wie z.B. sehr hohe Eingänge von Großaufträgen, die im nächsten Monat nicht mehr wiederholt werden können. Bei diesem Beispiel würde also im Folgemonat die Zahl der Auftragseingänge sinken, ohne dass dies die Konjunkturanalysten beunruhigen würde.
Eine andere Art von Sondereffekt sind spezielle Ereignisse wie die Pandemie. Nachdem die Lockdowns aufgehoben wurden, sind alle Konjunkturdaten durch die Decke gegangen. Das sagte jedoch nichts darüber aus, ob es in der Branche oder in dem Wirtschaftsbereich generell besonders gut lief oder nur nicht mehr ganz so schlecht. In diesem Fall brachte also der Vergleich zum Vorjahr nichts, sondern man schaute sich den Index-Verlauf der Konjunkturdaten an. Der Index-Stand als Zahl sagt nicht wirklich viel aus. In den meisten Fällen legt das Statistische Bundesamt ein Jahr oder einen Monat als Ausgangspunkt fest, z.B. Januar 2015 = 100. Von dort aus wird dann die Zeitreihe weitergeschrieben. Der Stand des Index wird in Punkten angegeben. Der Vorteil von Indizes ist, dass diese uns das Niveau zeigen, auf dem sich der Wirtschaftsindikator befindet. Nehmen wir zum Beispiel die Produktion in einer Branche X, die schon seit Jahren zu kämpfen hat: Wenn diese Branche einige starke Monate hat, dann würde jemand, der sich nur die Veränderungsraten anschaut, sagen, dass es der Branche gut geht. Jemand, der sich den Index-Stand ansieht, weiß dagegen, dass es gerade etwas besser läuft, die Branche jedoch von einem extrem niedrigen Niveau kommt. Es ist also nicht mehr als ein vorsichtig positiver Ausblick.
Haupt- und Unterkomponenten: Es ist nicht so, wie es scheint
Es gibt Zeitpunkte, da lohnt es sich, in die Tiefe zu gehen. Beispiel: Die Daten zum deutschen Auftragseingang werden veröffentlicht und fallen außerordentlich gut aus. Die Nachrichtenagenturen veröffentlichen in ihren Terminals die Veränderung zum Vormonat und Vorjahr und alle Trader sind glücklich und zufrieden. Oder doch nicht? Es gibt Konjunkturdaten, die haben „Extras“, die schnell übersehen werden. Im Falle der Auftragseingänge sind das die Großaufträge. Natürlich freut man sich, wenn diese reinkommen. Aber ein Schiff oder eine Flugzeugbestellung könnte zum einen noch storniert werden und zum anderen liegt die Produktionszeit bei Quartalen bis hin zu Jahren. Die Auftragseingangszahlen inklusive Großaufträge sagen also wenig über die aktuelle Konjunkturentwicklung aus. Zudem wird dieser Indikator im nächsten Monat wieder fallen, da nicht jeden Monat ein neues Kreuzfahrtschiff in Auftrag gegeben wird.
Ähnlich ist es bei der Industrieproduktion bzw. der Produktion des Produzierenden Gewerbes. Diese wird im Deutschen oft mit der Produktion im Verarbeitenden Gewerbe verwechselt bzw. als Synonym benutzt. Tatsächlich umfasst die Industrieproduktion neben der Produktion des Verarbeitenden Gewerbes aber noch die Bergbauproduktion, die Energieproduktion und die Produktion bzw. Aktivität im Baugewerbe. Wenn wir also einen ungewöhnlich heißen Sommermonat haben und die Verbraucher ihre Klimaanlagen nutzen, dann kann dies die Energieproduktion und damit die Industrieproduktion nach oben drücken. Das ist für den Moment positiv für die Elektrizitätswerke, aber es sagt nicht allzu viel über die generelle Konjunkturentwicklung aus.
Einige Tipps und Tricks
- Setzen Sie sich in Ruhe mit den Daten auseinander: In manchen Bereichen (Finanzmärkte, Nachrichten) müssen Konjunkturdaten schnell gelesen und interpretiert werden. Um dies richtig zu tun, sollte man sich vorher den Aufbau der Konjunkturdaten in Ruhe angeschaut haben und Besonderheiten im Blick haben (z.B. spezielle Ereignisse).
- Immer zur Originalquelle gehen: Nachrichtenagenturen veröffentlichen nur wenige Minuten nach der Datenpublikation eine Einschätzung. Diese beinhaltet aber manchmal nicht die ganzen Geschehnisse im Hintergrund. Die statistischen Bundesämter geben bei ihren Publikationen alle zur Verfügung stehenden Daten – nicht nur die Hauptkomponenten – und häufig auch mehr Kontext an.
- Ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte: Es ist schwierig, bei einer längeren Zeitreihe den Überblick zu behalten. In diesem Fall hilft es, sich die Zeitreihe als Grafik ausgeben zu lassen. Dann fällt es leichter zu erkennen, wann der Index eines Indikators das letzte Mal einen ähnlichen Stand wie zum aktuellen Zeitpunkt erreicht hatte.
- Es braucht eine Weile, bis man die Konjunkturentwicklung richtig verstehen kann. Man braucht ein Vorwissen. Wirtschaftsanalyse ist eine unendliche Geschichte. An einem beliebigen Zeitpunkt steigt man ein, aber man braucht schon einige Zeit, bis man versteht, warum sich eine Branche oder ein Wirtschaftsindikator in eine bestimmte Richtung entwickelt. Wenn man dieses Vorwissen einmal erworben hat, dann wird aus drögen Konjunkturdaten eine ganz eigene Storyline.