Deutschland: Zahl der Unternehmensinsolvenzen erreicht 8-Jahres-Hoch

Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland steigt im Jahr 2024 stark an. Dies hat auch Auswirkungen auf die erwarteten Forderungen aus Insolvenzen, die bereits nach fünf Monaten das Gesamtvolumen von 2023 erreicht haben. Mit Blick auf die anhaltend schwache Konjunkturentwicklung der letzten Quartale ist mit einer baldigen Abkehr von diesem Aufwärtstrend nicht zu rechnen.

Laut Statistischem Bundesamt betrug die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im Mai dieses Jahres 1.934[1] – das ist der höchste Stand seit Juni 2016. Zusammen mit den bereits 1.906 Insolvenzen im April 2024 festigt sich damit der Trend zu einem deutlich höheren Insolvenzniveau als in den letzten Jahren.

Betrachtet man die vergangenen 24 Jahre, so ist das derzeitige Insolvenzgeschehen nicht außergewöhnlich stark. Im Schnitt wurden zwischen 2000 und 2015 jeden Monat 2.616 Insolvenzen verzeichnet. Der Höchststand wurde im März 2004 mit 3.755 insolventen Unternehmen erreicht. In den letzten Jahren lag die Zahl der Insolvenzen jedoch deutlich niedriger. Die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht zu Beginn der COVID-19-Pandemie bis Mitte 2021 sowie die hohen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen bis Mitte 2022 haben die Unternehmensinsolvenzen auf niedrigem Niveau gehalten. Seit 2023 ist die Zahl der Insolvenzen jedoch wieder deutlich angestiegen. Die Zahlen von Januar bis Mai 2024 lagen um 29% höher als im Vorjahr. Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden voraussichtlich erheblich sein, da auch das Niveau der Forderungen aus Insolvenzen in diesem Jahr wieder einen Höchststand erreichen dürfte.

Transport & Logistik mit höchster Insolvenzrate

Mehrere Branchen treiben derzeit die Insolvenzzahlen in die Höhe. Betrachtet man die Insolvenzrate, so ist der Bereich „Verkehr und Lagerei“ (Transport & Logistik) mit 12,2 Fällen pro 10.000 Unternehmen im Mai 2024 am stärksten betroffen. Dies ist doppelt so hoch wie der Durchschnitt von 5,6 Unternehmensinsolvenzen über alle Branchen in Deutschland hinweg. Auf den Transportsektor folgen „sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen“ (einschließlich Zeitarbeitsfirmen) mit 9 Insolvenzen pro 10.000 Unternehmen, das Baugewerbe (8,5) und die Gastronomie (7,4).

Das stärkste Wachstum bei den Insolvenzen wiederum verzeichnete die Automobilindustrie. Von Januar bis Mai 2024 stieg die Zahl der Insolvenzen im Jahresvergleich um 120%. Es folgten die Holzindustrie (105%), die Metallindustrie (72%) sowie die Papier- und Verpackungsindustrie (61%). Im Gegensatz dazu ist die Agrar- und Lebensmittelindustrie eine der wenigen Ausnahmen, bei der die Insolvenzzahlen bis Mai zurückgegangen sind – um 16% im Vergleich zum Vorjahr.

Auch Forderungen aus Insolvenzen auf Rekordniveau

Unternehmenspleiten sind mit verschiedenen Risiken verbunden, eine große Bedrohung liegt häufig in den erwarteten Forderungen aus diesen Insolvenzen. Von Januar bis Mai 2024 summierten sich die erwarteten Forderungen bereits auf 26,1 Milliarden Euro (+118% im Jahresvergleich), was fast dem Gesamtniveau des Jahres 2023 entspricht. Das Jahr 2024 droht diesbezüglich eines der teuersten Jahre der letzten zwei Jahrzehnte zu werden. Der Grund für diese starke Dynamik ist nicht nur die generell steigende Anzahl von Insolvenzen, sondern auch der Anstieg großer Insolvenzfälle. Konkret gab es von Januar bis Mai 2024 insgesamt 134 Insolvenzen mit Forderungen von jeweils über 25 Millionen Euro, verglichen mit nur 50 im selben Zeitraum des Vorjahres. Den größten Anstieg der Forderungen nach Branchen in den ersten fünf Monaten dieses Jahres verzeichnete die Immobilienbranche (1.099%), gefolgt vom Handel (einschließlich Einzelhandel; 216%) und der Finanz- und Versicherungsbranche (142%). Der außergewöhnliche Anstieg im Immobilienbereich ist wahrscheinlich mit der Insolvenz der Immobiliengruppe SIGNA verbunden, die hauptsächlich in Österreich und Deutschland Großprojekte hatte.[2] Im Gegensatz dazu gingen die erwarteten Forderungen im Agrar- und Lebensmittelsektor (-45 % im Jahresvergleich), im Verarbeitenden Gewerbe (-32 %), im Bereich der Informations- und Telekommunikationstechnologie (-19 %) und in der Gastronomie (-11 %) zurück.

Während die offiziellen Insolvenzzahlen nur bis Mai 2024 vorliegen, wurden auch die Anträge auf Regelinsolvenzverfahren für Juni und Juli gemeldet. Diese Anträge umfassen nicht nur Unternehmensinsolvenzen, sondern auch Insolvenzen von Selbstständigen. Basierend auf diesen Daten sollten sich die Zahlen im Juni und Juli leicht abschwächen, da dieser Frühindikator von einem Wachstum gegenüber dem Vorjahr von 27% im April/Mai auf 10% im Juni/Juli zurückgegangen ist.

Insolvenzen hinken dem Wirtschaftszyklus hinterher

Aus volkswirtschaftlicher Sicht gibt es jedoch Hinweise darauf, dass das hohe Niveau an Insolvenzen vorerst anhalten wird. Seit die deutsche Wirtschaft im ersten Quartal 2022 ihr Vor-Pandemie-Niveau erreicht hat, stagniert sie fast zwei Jahre in Folge. Der ifo Geschäftsklimaindex befindet sich seit Mai 2023 im negativen Bereich. Einige Verbesserungen wurden größtenteils durch neue Rückschläge zunichtegemacht. Lediglich der Dienstleistungssektor zeigt noch positive Werte. Zwar prognostiziert Coface eine moderate Erholung der deutschen Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte 2024, bedingt durch ein starkes reales Lohnwachstum in den letzten Quartalen, das den privaten Konsum stützen sollte, (leicht) niedrigere Zinsen und eine stärkere Auslandsnachfrage – jedoch wird es einige Zeit dauern, bis sich dies in niedrigeren Insolvenzzahlen niederschlägt, da diese strukturell dem Wirtschaftszyklus hinterherhinken.

Aber auch aus unternehmerischer Sicht ist der Ausblick für viele Unternehmen trübe. Nach der Erholung von der COVID-19-Pandemie haben viele ein höheres Schuldenniveau aufgebaut, die Ersparnisse reduziert und investiert. All dies geschah in der Erwartung eines anhaltenden Wirtschaftswachstums. Da dieses jedoch in den letzten zwei Jahren ausgeblieben ist, wird die finanzielle Lage vieler Unternehmen zunehmend angespannt. Hinzu kommt, dass Tausende von Unternehmen unerwartet pandemiebedingte staatliche Unterstützungsmaßnahmen zurückzahlen müssen. Während die Unterstützungszahlungen zunächst als Beihilfe deklariert wurden, wurden die Anspruchskriterien später verschärft, sodass einige Unternehmen letztlich nicht (oder nur teilweise) anspruchsberechtigt sind. Besonders kleine Unternehmen geraten wegen dieser ungeplanten Rückzahlungen nun in Schwierigkeiten.

Schließlich verschärfen sich die Kreditbedingungen deutscher Banken weiterhin, obwohl die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrem schrittweisen Zyklus der geldpolitischen Lockerung begonnen hat.[3] So hat sich der durchschnittliche Zinssatz für neue Unternehmenskredite zwar bei etwa 5,3% stabilisiert (unter dem Höchststand von Oktober 2023), aber der durchschnittliche Zinssatz für bestehende Unternehmenskredite ist naturgemäß weiter gestiegen (3,5% zwischen April und Juni 2024 – der höchste Stand seit September 2012). Diese engen finanziellen Rahmenbedingungen, zusammen mit einer nur sehr langsamen Erholung der deutschen Wirtschaft, führen wahrscheinlich zu einer verlängerten Periode hoher Insolvenzzahlen.


 

[1] Die deutschen Insolvenzzahlen werden mit einer Zeitverzögerung von mehreren Monaten veröffentlicht; https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/08/PD24_307_52411.html

[2] SIGNA ist die größte Unternehmensinsolvenz in der Geschichte der Republik Österreich

[3] EZB „Bank Lending Survey“ (BLS): https://www.ecb.europa.eu/stats/ecb_surveys/bank_lending_survey/html/ecb.blssurvey2024q2%7Ef97cb321f1.en.html

 

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